Lonnìl nahm den leeren Eimer und lief nach draußen, um ihm am Brunnen zu füllen. Morren bedachte Felder mit einem unbarmherzigen Blick, und so stand er auch noch, als Lonnìl zurück kam. Der fünfte Eimer schaffte es endlich, Felder das volle Bewußtsein wiederzugeben, auch wenn dieser darüber nur bedingt glücklich schien. Er lehnte sich mit einem Mittelding aus Liegen und Sitzen gegen die Scheunenwand, blickte verwirrt zwinkernd um sich und litt offensichtlich.
»Ich frage mich, was du dir dabei gedacht hast«, sagte Morren nachdenklich. »Es sah weniger so aus, als ob du dich betrinken wolltest, sondern mehr, als ob du möglichst schnell aus dem Leben scheiden wolltest. Wie ist es - wolltest du sterben?«
»Ich bin gerade dabei«, ächzte Felder, »und ich wäre dir dankbar, wenn du das Licht von meinem Gesicht wegnehmen könntest.«
Lonnìl schüttelte den Kopf. Die Hände des Zauberers waren leer. Das einzige Licht fiel von draußen durch einige Ritzen zwischen den Brettern hinein, und es war eher schummrig in der Scheune. Aber selbst das war Felder in seinem derzeitigen Zustand wohl zuviel. Seine Augen waren rot und verquollen.
»Geht weg! Laßt mich sterben!«
»Wir hätten uns wohl kaum einen Tag und zwei Nächte darum bemüht, dich ins Leben zurückzurufen, wenn wir dich jetzt sterben ließen«, bemerkte Morren trocken. »Das hast du natürlich wie üblich unserem Freund Lonnìl zu verdanken. Nichts bereitet ihm mehr Vergnügen, als dir das Leben zu retten. Auch wenn es diesmal extrem unvergnüglich war, nicht wahr, Lonnìl?«
Lonnìl antwortete nicht und versuchte, auch nicht mehr an die vorletzte Nacht zu denken. Es war einfach nur widerlich gewesen.
»Erwartet keine Dankbarkeit von mir«, nuschelte Felder. »Ein schöner schneller Tod wäre diesem Elend eindeutig vorzuziehen gewesen, ganz gleich, ob ich es nun überlebe oder nicht.«
»Also wolltest du dich wirklich umbringen?«
»Ich glaube, ich hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen. Frag mich doch nicht sowas Schweres! Ich versuche gerade auf die Reihe zu bekommen, wer ich bin, wer ihr seid, und wie ich in dieses Loch hier gekommen bin. Ihr könntet euch ruhig einmal nützlich machen, statt da rumzustehen und zu gaffen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich früher weniger Zunge hatte. Im Ausgleich dazu konnte ich sie so bewegen, wie ich wollte. Habt ihr nichts zu trinken?«
»Du hast nichts übrig gelassen«, bemerkte Morren.
»Wasser, ihr Idioten!«
»Man sollte meinen, auch davon hättest du mehr als genug gehabt. Es ist aber noch ein Rest im Eimer.«
Lonnìl reichte Felder dem Eimer, aber die Hände des Prinzen zitterten so stark, daß er ihn nicht alleine halten konnte. Schließlich mußte Lonnìl ihm das Wasser beinahe einflößen, denn Felder versuchte zu trinken, ohne dabei den Kopf auch nur einen Deut zu bewegen. Der größte Teil des Wassers lief ihm über Kinn und Hals, aber das machte ihm wohl weniger aus als sein Brummschädel.
»Was hast du mit mir gemacht, Zauberer?« wimmerte er. »Warum müßt ihr mich derart bestrafen?«
»Weil du es nicht anders verdient hast«, sagte Morren unbarmherzig. »Mach den Mund wieder auf!« Er zog einen kleinen Beutel aus der Tasche und schüttete daraus etwas Pulver in Felders gehorsam geöffneten Rachen. Felder schluckte reflexartig, verzog das Gesicht, hustete, würgte und riß ungeachtet aller damit verbundenen Körperbewegungen den Eimer an sich, um den letzten Schluck Wasser dem Pulver hinterherzugießen.
»Willst du mich auch noch vergiften? Was war das - Brechwurz?«
»Nein, das hast du nicht mehr nötig. Du hattest es vorgestern mindestens so eilig, den Fusel wieder von dir zu geben, wie du ihn in dich hineingeschüttet hast - was dir übrigens wohl das Leben gerettet hat. Das hier war zerstoßene Weidenrinde. Wirkt meiner Erfahrung nach ganz gut in solchen Fällen. Aus meiner Zeit in diesem Dorf hatte ich noch ein paar von den hilfreichen Kräutern in der Tasche. Ich wußte immer, daß es ein Fest gegeben hatte, wenn die Dorfjugend kam und etwas gegen Kopfschmerzen und Übelkeit haben wollte. Da mein geschätzter Bruder viel Zeit für seine Studien braucht, blieb die Aufgabe, sich um diese Kinder zu kümmern, für gewöhnlich an mir hängen.«
»Sie gingen zu einem Zauberer?« fragte Lonnìl erstaunt. »In meinem Dorf hatten wir zu diesem Zweck eine Kräuterfrau.«
»So etwas gab es in unserem Dorf natürlich auch. Es gibt sie überall - unsere Freundin Oana zum Beispiel war mit Sicherheit eine. Aber unser Kräuterweib wurde eines Tages vom Blitz erschlagen, und das sahen die Leute als Zeichen dafür an, in Zukunft bei uns um Wunder zu bitten. Sie zahlten ganz anständig. Vermutlich hatten sie Angst, wir könnten sonst auch Blitze auf den Hals schicken. Jedenfalls konnte man diesem Leuten mit Zaubereien nicht viel weiterhelfen. Sie waren an Kräuter gewöhnt, und darum wollten sie nichts anderes.«
»Freiwillig?« fragte Felder und schüttelte sich. Es schien ihm aber tatsächlich schon etwas besser zu gehen. Er hatte jetzt beide Augen fast voll geöffnet und stöhnte nicht mehr bei jeder Bewegung auf, und das, was er sagte, war jetzt auch deutlicher zu verstehen. »Sie müssen wahnsinnig sein. Glaubt es mir oder nicht, aber dies ist das erste Mal in meinem Leben, daß es mir derart dreckig geht, und ich habe beschlossen, daraus meine Lektion zu lernen.«
»Soll das heißen, du hörst auf damit?« fragte Lonnìl. Das wäre zwar phantastisch gewesen, aber er glaubte nicht daran. Es war eine natürliche Reaktion, am nächsten Tag zu schwören, nie wieder einen Tropfen anzurühren. Und Felder hatte nicht einmal das vor.
»Bloß nicht! Aber ich werde es in Zukunft wieder so unter Kontrolle halten wie früher. Ab einem gewissen Punkt hört es auf, angenehm zu sein. Es gibt sicher schönere Arten, sein Leben zu verlieren, und ich habe doch vor, es noch einige Zeit zu behalten, zumindest für ein paar Jahre. Es gibt soviel, was ich noch tun kann. Aber … waren wir nicht früher mal zu fünft? Wo sind die Elfen?«
»Sie konnten deinen Anblick nicht länger ertragen«, sagte Lonnìl, »und ich kann es ihnen nicht verdenken.«
»Du hast Keil innerhalb von einem Abend mehr über Menschen beigebracht, als er jemals wissen wollte«, fügte Morren hinzu. »Er und Schwinge warten in einem Wäldchen dort drüben auf uns. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann hätten wir dich wirklich deinem Schicksal überlassen, und wären weg gewesen, noch bevor du weg warst.«
Felder verzog wieder das Gesicht beim Versuch nachzudenken. »Zu meiner Information - habe ich irgend etwas … zu ihnen gesagt? Erzählt mir das nur noch, dann könnt ihr wirklich gehen und mich allein lassen. Ich werde euch keine Probleme mehr bereiten. Ich komme schon zurecht. Also … was habe ich noch getan?«
»Gar nichts. Ich habe in all der Zeit noch nie jemanden gesehen, der es so eilig hatte wie du. Du hast länger gebraucht, die zweite Flasche zu öffnen, als sie hinunterzustürzen, falls es dich beruhigt. Danach dauerte es nur noch ein paar Augenblicke, und du bist vornüber gekippt. Vielleicht hättest du vorher die Wurst essen sollen. Drei Tage hungern und dann das - vermutlich hätte jeder andere nur die erste Flasche geschafft. Es war wohl ziemlich stark?«
Felder nickte mit nicht zu übersehendem Stolz und brachte ein verzerrtes Lächeln zustande. »Niemand weiß, wie er es macht. Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Bauern, der ein stärkeres Zeug brennt. Es heißt, man muß es nur einmal schief ansehen, und es geht in Flammen auf. Abgesehen davon schmeckt es durchaus passabel. Der Bauer wird sich sicher wundern, wenn ich heute abend zu ihm gehe und meine Vorräte wieder auffrische. Wenn er sieht, daß ich noch lebe, wird er sich sicher daran machen, die Rezeptur noch etwas zu verbessern. Und jetzt - macht es gut. Viel Erfolg noch auf eurer Suche. Aber ohne mich dürfte es nicht mehr schwer sein. Wünscht mir Glück.« Ohne weitere Vorwarnung verdrehte er die Augen, und sein Kopf kippte nach vorne. Aber sein gleich darauf einsetzendes Schnarchen machte klar, daß er nicht wieder bewußtlos geworden, sondern nur eingeschlafen war. Wenn er wieder wach wurde, würde es ihm sicher besser gehen.
Lonnìl und Morren verließen die Scheune und gingen zum Wald hinüber. Die Elfen warteten schon auf sie. Jetzt erst fiel Lonnìl auf, was er vergessen hatte: Felders Schwert hing immer noch an seiner Seite. Früher hätte er das zwar nicht für möglich gehalten, aber er hatte sich so sehr an das sperrige, schwere Ding gewöhnt, daß er vergessen hatte, es Felder zurückzugeben. Dabei wollte er es doch gar nicht behalten! Aber jetzt war es zu spät. Lonnìl überlegte zwar noch kurz, ob er zurücklaufen und das Schwert neben Felder legen sollte, damit er es fand, wenn er aufwachte, aber die Elfen waren nicht länger bereit, noch länger zu warten. Das war auch nur zu verständlich. Wegen Felders Unvernunft hatten sie schon zwei Tage in diesem Wäldchen ausharren müssen, obwohl sie es sicher kaum erwarten konnten, endlich die Flöte in den Händen zu halten.
Sie waren schon ein ganzes Stück gegangen, als Lonnìl plötzlich begriff, wie nötig Felder sein Schwert jetzt brauchen würde. Mit dem Dolch, den er ansonsten noch hatte, würde er alleine nicht weit kommen. Und von was wollte er leben? Aber das wollte Lonnìl lieber nicht so genau wissen.
Erstaunlicherweise konnte Lonnìl nicht einmal sagen, ob Felder ihm nun fehlen würde oder nicht. Auf der einen Seite war er froh, diese lästige Nervensäge los zu sein. Aber auf der anderen Seite … Es war auf einmal so ruhig. Niemand redete. Zwar hatte Lonnìl nur auf das Allerwenigste von dem, was Felder sagte, geachtet, weil es sich oft nicht lohnte, ihm zuzuhören, aber irgendwie war er längst daran gewöhnt. Dieses Schweigen hatte etwas Bedrückendes an sich.
Doch trotz aller doch vorhandener Zuneigung, die Lonnìl dazu bewegt hatte, bei Felder zu bleiben und sich um ihn zu kümmern, bis sicher war, daß er überlebt hatte, war es doch das Beste, daß der Prinz nicht mehr dabei war. Dinge, die ihm Felder während des Streites an den Kopf geworfen hatte, drängten sich nun wieder in Lonnìls Sinn: Daß er alles nur so sah, wie er es sehen wollte. Obwohl Lonnìl vorgegeben hatte, nichts um diese Behauptung zu geben, konnte er doch nicht verhindern, daß sie nun an ihm nagte. Und genau deswegen war es gut, daß ihm nun weitere Konfrontationen mit Felder erspart bleiben würden. Nachdem dieser Streit einmal angefangen hatte, war er nicht mehr so leicht beiseitezulegen. Früher oder später hätte Lonnìl, statt zuzuschlagen, Stellung zu dem beziehen müssen, was Felder gesagt hatte - und genau das konnte er nicht. Natürlich liebte er Schwinge - oder liebte er nur das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte? Hatte sie ihm jemals Anlaß gegeben, sie zu lieben? Was waren seine Gefühle? Etwas in seinem Innern krampfte sich schmerzhaft zusammen, als Lonnìl merkte, daß er die ganze Zeit über nur versucht hatte, Felders Wesen zu ergründen - und dabei völlig versäumt hatte, sich über sich selbst klar zu werden.
Bedrückt folgte er Schwinge in einigen Schritten Entfernung, als Keil an ihn herantrat. »Er wird es doch überleben, oder? Ich meine - ich habe etwas Derartiges noch nie gesehen.«
Weder Lonnìl noch Morren hatten gegenüber den Elfen auch nur ein Wort über Felders Zustand verloren, und die hatten auch nicht danach gefragt. Lediglich ein leichtes Kopfnicken Morrens hatte angedeutet, daß jetzt alles wieder in Ordnung war. Aber Lonnìl hatte erwartet, daß Keil irgendwann fragen würde.
»Du kannst sicher sein - ich auch nicht. Ich habe sicher schon etliche Betrunkene erlebt, aber das …« Er schüttelte sich. »Wenn wir uns nicht um ihn gekümmert hätten, wäre er gestorben. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Morren hat etwas mit ihm gemacht, daß ihn gerettet hat. Etwas … Magisches, meine ich.«
»Oh«, sagte Keil betroffen. »Hat Felder das gewußt - daß es ihn umbringen konnte?«
»Mit Sicherheit. Er hat es darauf ankommen lassen. Du kennst ihn - es ist ihm egal, ob er eine Sache überlebt oder nicht.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Keil. »Ich bin kein Mensch, und vermutlich irre ich mich, aber ich hatte immer den Eindruck, daß Felder so sehr an seinem Leben hängt, daß er gar nicht mehr daran glaubt, daß er es wirklich verlieren könnte. Er sagte zwar immer, er wünsche sich einen schönen schnellen Tod, aber was er in Wirklichkeit wollte, war Unsterblichkeit. Irgendwann hatte er so viele Gefahren überlebt, daß er angefangen hat zu glauben, er sei wirklich unsterblich. Und darum muß er jetzt sein Leben immer wieder herausfordern, um zu sehen, ob er Recht hat.« Keil schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Schwinge ist natürlich froh, daß er weg ist, aber ich glaube, er wird mir fehlen. Ich mochte ihn. Irgendwie habe ich ihn bewundert, glaube ich.«
»Aber er hat es überlebt, Keil! Du redest von Felder, als ob er schon tot wäre!«
»Wenn er nicht wirklich unsterblich ist, wird er es beim nächsten Mal nicht überleben.«
»Ich denke nicht, daß er es noch einmal tun wird«, sagte Lonnìl und mußte gegen seinen Willen plötzlich lachen. »Weniger aus Angst davor, daß es ihn umbringt, sondern daß er es noch einmal überlebt.« Und er erzählte dem zugleich faszinierten und entsetzten Elfen davon, wie sehr der Thorianer beim Erwachen gelitten hatte.
aus: »Eine Flöte aus Eis« (1996)